Surfen in der DDR - Wie Eigeninitiative zur Leidenschaft wurde
Alles fing damit an, dass ein Freund meines Mannes von Beruf Chemieanlagenbauer in der DDR-Zeitschrift „Jugend und Sport“ die Bauanleitung für ein Surfboard fand. Das war es – Windsurfen! Wir waren Feuer und Flamme und das Surffieber hatte uns gepackt. Unter Hochdruck baute mein Mann mit seinen Kollegen die erste Form eines Surfbretts. Über die Form wurde dann eine Glasfasermatte gezogen und diese musste mit Polyesterharz getitscht werden. Kilogramm für Kilogramm wurde aus verschiedenen Kanälen besorgt. Aus einer von der damaligen BRD geschmuggelten Surfzeitschrift übernahm ich den Schnitt für das Segel. Das Metall für Mast und Gabelbaum und den Stoff besorgten wir aus der ehemaligen CSSR. Bei den Grenzern gaben wir an, ein Gewächshaus bauen zu wollen. Für das Zuschneiden und Nähen des Segels musste ich unser Wohnzimmer. Der Stoff dafür war so schlapprig, dass wir ihn „Schlüpferstoff“ nannten. Die Purstäbe für Mast und Boardverbindung kreierten uns Anlagenbauer während ihrer Arbeitszeit. Über 100 Arbeitsstunden benötigten wir bis schließlich der Zucker auf der Trittfläche war und das Brett trittsicher machte. Und endlich war es soweit. Das Surfboard war mit allem drum und dran nach monatelanger Arbeit fertig.
Nun konnte der Spaß beginnen! Hoch und runter auf und ab versuchten wir uns auf der Malter - natürlich ohne Neoprenanzug. Später erfand jeder für sich etwas. Ob Regenmantel oder Natoplane – alles war erlaubt, so lange es gegen Wind und Wasser schützte. Gefühlte 100 Mal schickte mich mein Mann auf der Malter mit Tipps, wie „Mast nach vorn“, „Segel dicht“ hin und her. Aber wo war vorn, wenn man gerade wieder tropfnass auf dem Brett stand? Entnervt stieg ich ins Ruderboot, sollte es mein Mann doch besser machen, dachte ich mir und ruderte zum Ufer. Doch irgend wann hatte ich es raus und das große Abenteuer begann.
Immer mehr Leute bekamen nun von der Sache mit dem Surfboard Wind und bald gab es eine ganze Gemeinschaft, die infiziert war. Jeder wollte nun sein eigenes Brett titschen. Wer „Schlüpferstoff“ unterm Ladentisch erhielt, kam mit den Worten zu mir: „Kannste mir ein Segel nähen?“ Jeder half eben jedem. Wir konnten auf dem Board noch nicht mal ordentlich stehen, da fuhren wir auch schon zu unserem ersten Surfurlaub an die Ostsee. Auf dem Usedomer Zeltplatz durften wir unsere Surfbretter jedoch nicht lagern. Die Ordnungshüter des Platzes ließen uns die Bretter jeden Abend ins Landesinnere transportieren und früh wieder abholen. Schließlich war es damals nicht einmal gestattet, eine Luftmatratze auf die offene See zu legen.
Unsere Surfgruppe wuchs und wir trafen uns jedes Wochenende mit Kind und Kegel an den Seen der Umgebung. Die Sprösslinge lernten in „Papas Segelschule“ anschaulich an einem selbst gebastelten Modell die Grundbegriffe, wie Lee und Luv, Backbord – Steuerbord und wo vorn am Surfboard ist. Wir Eltern pflegten die Gemeinschaft, erfanden immer neuere, bessere Bretter und Segel. Bald wurde zu den ersten Surf-Regatten geblasen und ein Jahr später fuhren die Kinder zu den Jugendmeisterschaften. Die Eltern unseres Teams starteten bei der ersten DDR-Meisterschaft. Mittlerweile ist der größte Teil unserer Gemeinschaft fast 70 Jahre alt. Ob Atlantik oder Ostsee, im Urlaub werden Boards ausgeliehen, um die Freiheit von damals zu fühlen.
Text: Ingrid Wagner | Fotos: Privat
31. Mai 2024