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Interview: Jürgen Reis

Jürgen Reis

Jürgen Reis ist ein österreichischer Profi- Sportkletterer und Kraftsport-Autor. In Kraftsportkreisen ist er längst ein Phänomen. Immerhin erreichte der 35- Jährige trotz eines Fokus auf funktionelle Kraftsteigerungen bereits mehrfach Körperfettwerte von unter vier Prozent. In einer unserer früheren Ausgaben haben wir seine „Peak“- und „Power-Quest“-Buchreihe bereits vorgestellt und konnten diese uneingeschränkt empfehlen. Den Kontakt mit diesem sympathischen Österreicher haben wir gehalten und es war nur eine Frage der Zeit, bis er uns in einem PULSTREIBER-Interview Rede und Antwort stehen würde.

Jürgen, erzähl unseren Lesern doch kurz ein wenig über dich und deinen Einstieg in die Welt des Sports?

Ich bin 1976 in Feldkirch, Österreich, geboren und lebe in Dornbirn. Ich habe mich schon als Kind sehr viel an der frischen Luft bewegt, Ausnahmesportler Jürgen Reis lebt nach seinen eigenen Grundsätzen. Wenn andere nach Hause kommen, tankt er bereits Schlaf für den nächsten Trainingstag. jedoch ohne eine bestimmte Sportart zu betreiben. Mit 14 Jahren habe ich mich, wie so viele andere Jugendliche auch, für Kampfsportler wie Jean-Claude van Damme begeistert und angefangen Sport zu treiben. Begonnen hat es mit dem Rennradsport, aber da ich damals wirklich sehr dünn und schmächtig war, habe ich nach Wegen gesucht, etwas athletischer zu werden. So habe ich mit einem Freund fast täglich Kraftübungen im Fitnesspark absolviert und über die Jahre bestimmt tausende Klimmzüge, Liegestütze und Sit-Ups gemacht. Mit 17 Jahren bin ich durch einen Arbeitskollegen zum Sportklettern gekommen, was mich vollkommen eingenommen hat. Bereits ein halbes Jahr später konnte ich die Landesmeisterschaft gewinnen und wenige Jahre später bereits an Weltcups teilnehmen.

Wie wurdest du gleichzeitig Profisportler und Unternehmer?

Klettern ist ein Sport, von dem ich nicht als Vollprofi im eigentlichen Sinne leben kann. Bis zu meinem 19. Lebensjahr arbeitete ich als Sachbearbeiter. Dann wagte ich den Schritt in die Selbständigkeit in der IT-Branche, was mir eine freiere Zeiteinteilung und ein einigermaßen professionelles Training ermöglichte. Doch von genügend Schlaf und entsprechender Regeneration konnte ich oft nur träumen. 2003 durchkreuzte dann ein schwerer Sportunfall, der mich gleichzeitig zum Nachdenken brachte, meine Pläne. Sollte ich aus der IT-Branche aussteigen und mein Leben komplett dem Sport widmen? Bei einem anschließenden Urlaub in der Türkei kam es zu einer Art Offenbarung. Ich habe nach oben gesehen und zum Universum – oder was bzw. wer immer „da oben“ ist – gesagt: „Wie wäre es mit einem fairen Deal? Ich werde wieder 100-prozentig fit und gebe dafür das weiter, was ich die letzten Jahre im Hochleistungssport gelernt und erlebt habe, und setze auch beruflich somit alles auf den Sport“. Die Antwort kam in Form einer Wolke, die sich bewegte und die strahlende Sonne freigab. Dies war für mich ein Zeichen. Daraufhin schrieb ich noch am selben Vormittag die erste Seite meines Erstlingswerks in Buchform, das wenige Monate später als Das Peak-Prinzip in Fachkreisen einschlug, wie eine Bombe. Sechs Monate später konnte ich dann auch schon wieder im Weltcup klettern. Das klingt sicher wie aus einem kitschigen Hollywood-Film, aber so war es. Über die Jahre hinweg kamen weitere vier Bücher und ein Audio-Podcast hinzu (Gemeint sind Peak Power, Peak-Time, Power-Quest 1, Power Quest 2 und der kostenlose Internet-Podcast www.Power-Quest.cc).

Hast du jemals bereut, diesen Weg eingeschlagen zu haben?

Klares Nein. Sicherlich gibt es auch bei mir Momente, bei denen ich mich frage, ob ich wirklich auf dem richtigen Weg bin. Oft muss man sich mit Problemen herumschlagen, über die sich ein normaler Angestellter nicht zu sorgen braucht. Davon wirst du als selbstständiger Verleger sicherlich auch „dein Liedchen singen können“. Aber genauso wie du, habe auch ich eine Vision und liebe diesen Lebensstil. Ich darf mich, genau wie du, so oft und so viel bewegen, wie ich möchte, lerne die interessantesten Leute kennen und bin, zumindest meiner eigenen Definition nach, einfach frei. Ja, ich denke, das ist mein Weg, der mir bestimmt und nicht von mir ausgesucht ist.

Was sind deine weiteren Ziele?

Sportlich war es schon immer der „Rockmaster“ in Arco, Italien. Allerdings ist die Kletterszene knallhart und mit 35 Jahren zähle ich schon fast zum alten Eisen. Da ich aber, vermutlich auch trainings- und lifestylebedingt, die Physis eines 25-Jährigen habe, rechne ich mir sehr große Chancen aus, wenn es – wovon ich überzeugt bin – in den nächsten Jahren zur Gründung einer Masters-Klasse, bei diesem „Wimbledon des Klettersports“, kommt. Auch ich bewege mich im Rahmen meiner genetischen Grenzen, aber ich traue es mir zu, mich weiter zu verbessern, wo Sportler meines Alters bereits abbauen. Wenn ich mit über 40 noch so fit wie jetzt bin, dann bin ich wirklich Weltklasse. Unabhängig davon halte ich die Augen offen und versuche überall mein Bestes zu geben. Bisher habe ich immer Herausforderungen gefunden, die mich gepusht und motiviert haben. Und wenn es mal nicht so läuft, wie z.B. bei der verletzungsbedingt verpassten Weltcup-Quali im letzten Jahr, dann verwirkliche ich eben etwas anderes, wie z.B. meine neue DVD „Peak-Days“, die quasi anstelle der Weltcupwettbewerbe 2011 entstand. Ich setze mir grundsätzlich bei allem, was ich tue, kurz-, mittel- und langfristige Ziele und bin fast immer nahe an meiner Peak-Form (Anm. d. Red.: Top-Form). Ich brauche Ziele, Termine und einen gewissen Erfolgsdruck, dann gebe ich auch 100 Prozent und mehr ... so einfach ist das.

Für die Leser, die deine Bücher noch nicht kennen – wie schaffst du es, Muskeln und Kraft aufzubauen und gleichzeitig einen extrem niedrigen Körperfettanteil zu halten?

Gerade auf die Körperfettanteil-Geschichte werde ich oft angesprochen. Dabei ist dies für mich nur eine Nebenerscheinung. Meist visiere ich ein großes sportliches Ziel an, trainiere dementsprechend und das Fett schmilzt von alleine. Ich bin aber kein Bodybuilder und werde nicht für wenig Körperfett bezahlt. Ich halte keine Diät im klassischen Sinne, sondern ernähre mich konsequent nach einem System, das es mir ermöglicht Kraft aufzubauen und den Fettstoffwechsel anzukurbeln. Dieses basiert auf strategisch auf den Tag und die Woche verteilte Trainingseinheiten, einer zyklischen, proteinreichen Ernährung mit gezielten Low- und High-Carb-Phasen, viel Wasser und die Einnahme der Mahlzeiten zu hormonell günstigen Zeiten (Anm. d. Red.: Jürgen Reis’ „Kämpfer-Diät“ ist in all seinen Büchern, außer in seinem Erstlingswerk dem „Peak-Prinzip“, detailliert beschrieben). Auch mein sonstiges Leben ist auf Aktivität ausgerichtet. Ich habe kein Auto, bewege mich lieber zu Fuß oder per Rad und habe auch kein Fernseher, vor dem ich Zeit vertrödeln kann. Das ist der Peak-Lifestyle. Man kann, meiner Erfahrung nach, den Körper nicht dazu zwingen, aber jeder kann seinen Körper dazu anregen, schlank und athletisch zu werden. Dies gelingt jedoch nur langfristig, dafür ist die erreichte Topform dann aber auch dauerhaft. „In vier Wochen zum ausdefinierten Waschbrettbauch“, so wie es manche Fitnessgurus oder schlechte Redakteure empfehlen, das funktioniert nun einmal nicht. Als aktuelles Beispiel kann ich meinen Coachie Sven Albinus, der übrigens auch aus Dresden kommt, hernehmen. Er hat seinen Körperfettanteil von 17 auf 7 Prozent optimiert und hält diesen Rekordwert nun schon gut ein Jahr!

Wie sieht denn bei dir ein typischer Trainings- Tag aus?

Ein normaler Workout-Tag beginnt derzeit um ca. fünf Uhr mit einem kurzen Warm-Up Kardio auf dem Stepper oder dem Ergobike und anschließender Morgengymnastik. So aktiviere ich meinen Körper für den Tag. Dann geht es für maximal eine halbe Stunde an den PC zum Beantworten der wichtigsten E-Mails. In der Zeit trinke ich meist eine Tasse grünen Tee, bevor es, kurz nach sechs, nach dem spezifischen Warm-Up, zu einer kurzen, aber maximalkräftigen Trainingseinheit geht. Will heißen: Turnsportübungen kombiniert mit Campus-Board- oder Griffbalkentraining und dies gut eine Stunde. Nach einer kurzen Pause folgt dann ab 7.45 Uhr die Haupttrainingseinheit. Dies bedeutet: klettern oder bouldern und dauert meist bis Mittag. Nach einem obligatorischen After Workout Snack und einem Power-Nap mit Autogenem Training heißt’s anschließend: An die Arbeit. Bis gut 15.30 Uhr erledige ich also Geschäftliches und danach geht’s noch einmal zum Laufen und einem speziellen Krafttraining. Hier fokussiere ich mich vor allem auf Muskelgruppen und Übungen, die beim Haupttraining zu kurz kamen bzw. primär auf die Gegenspielermuskeln, die Antagonisten. Zwischendurch esse ich hochwertige Snacks und trinke viel Wasser, oft auch Kaffee & Co. Abends folgt dann noch ein regeneratives Training auf dem Ruderergometer oder ein Körperspannungstraining. Kurz vor 18 Uhr heißt es dann „Kämpfer-Dinner-Zeit“ und meist schon um 19 Uhr liege ich in den Federn. Zehn Stunden Schlaf sind ein Muss. Ruhetage, an denen auch mehr Zeit für Arbeit, Hobbys und Co. bleibt, pflege ich natürlich auch, aber auch da bewege ich mich sehr viel, verzichte jedoch auf hartes Training. Um meinen Geist frisch zu halten, vertraue ich auf Sportmeditation und dem soeben erwähnten Autogenen Training.

Ist es nicht hart für dich, diese Disziplin zu halten?

Eigentlich nicht. Ich habe meine Ziele vor Augen und meist auch ebenfalls auf professionellem Niveau trainierende, hoch motivierte Trainingspartner. In Dornbirn habe ich nicht nur das Glück, die richtigen Leute vor Ort zu haben, sondern auch die Trainingsbedingungen stimmen. So haben wir mit der „K1 Kletterhalle Dornbirn“ und einem Boulderzentrum im „Magic Fit“ gleich nebenan sicherlich eine der besten „Indoorkletter-Städte“ Europas. Auch morgen wartet beispielsweise, nach dem heutigen Ruhetag, mit Fabian als Trainingspartner, wieder ein junger Nachwuchs-Wettkämpfer als Mitstreiter auf mich, was mich bereits jetzt ungeheuer motiviert. Für diese Sportler, und auch Coachies, die mich regelmäßig besuchen, will ich ein absolut vorbildlicher Trainingspartner sein. Also achte ich quasi „automatisch“ darauf, z. B. immer ausgeschlafen und motiviert zu sein. Die Disziplin kommt von ganz alleine, wenn ich daran denke, wie viel mir meine jetzige Fitness, mein Energielevel und meine Ziele wert sind. Ich betrachte es als Luxus, selbst meinem Leben die Richtung zu geben, Prioritäten zu setzen und entsprechende Entscheidungen treffen zu dürfen. Bequem und erfolglos oder diszipliniert und erfolgreich? Vielleicht wirkt mein Leben auf manche eingeschränkt ... anderseits: Wer kann so leben wie ich? Ich bin frei, sprühe vor Energie und auch jetzt, während wir telefonieren, wandere ich mit dem Headset am Ohr durch die freie Natur und erfreue mich an der frischen Luft und den ersten Schneeflocken. Das ist Leben!

Mit deinem niedrigen Körperfettanteil wirkst du für Außenstehende etwas abgemagert. Gerade in Fitnesskreisen sicherlich kein Schönheitsideal. Wie stehst du dazu?

Uff, was für ein Tiefschlag. Ich sollte mich also von meinen Modelkarriere-Träumen so langsam verabschieden? (lacht) Ganz im Ernst: Ich habe ein schlankes „Körpergerüst“ und andere Sportler würden mit demselben Training auch bei niedrigem Körperfettanteil weitaus athletischer aussehen. Ich kann mich erinnern, dass mich mein Vater – damals war ich 17 Jahre alt – auf dem Flughafen Los Angeles auf die Gepäckwaage gesetzt hat und diese zeigte nicht ganz 45 Kilo. Ein deutscher Tourist „beschwerte“ sich in einem dieser Familienurlaube bei ihm: „Ich glaube der Junge hat einen Wurm, der in ihm mitisst …!“. Ihm waren meine allabendlichen „Kuchenschlachten“ am Dessertbuffet nicht mehr geheuer. Auch heute noch ist mein Stoffwechsel für viele Außenstehende ein Phänomen. Okay, Einfachzucker und Weizen sind zwar nicht mehr „meine Freunde“, aber ich behaupte: Mit entsprechendem Training, der Kämpfer-Diät & Co. könnten dies die Meisten verwirklichen. Doch zurück zu deiner Frage: Mittlerweile habe ich natürlich deutlich an Muskeln zugelegt, aber sicherlich auch genetisch bedingt, werde ich nie ein Schwarzenegger sein, auch wenn das Herkunftsland zumindest passt. Für mich ist der ideale Athlet auch nicht massig, sondern primär stark, beweglich und effektiv. Auch dank einer Muskulatur, mit der er seinen Sport optimal ausüben kann. Was habe ich von „nicht funktioneller“, also in meinem Fall dem Sportklettern nicht förderlicher „Masse“?

Trotzdem spürt man deine Begeisterung für die internationale Kraftsport- und Bodybuildingwelt? Woher kommt dieser Enthusiasmus?

Mich fasziniert gerade bei Bodybuildern deren disziplinierter Lifestyle. Ich bewundere Bodybuilder, wie meinen deutschen Freund und Coachie, Leon Schmahl, die oft monatelang Diät halten und dabei brutal trainieren. Natürlich interessieren mich auch die Lebensgeschichten der Athleten, die meist sehr bunt und lehrreich sind. Schau dir doch einmal Kurt Marnul, Arnold Schwarzeneggers ersten Trainer an. Der Mann ist mit 82 noch topfit und trainiert täglich mehrere Stunden. Das ist schon beeindruckend. Da zudem Kraftsportler und Bodybuilder, genau wie ich, selten von ihrem Sport, bzw. den Preisgeldern leben, besteht auch hier eine gewisse „Seelenverwandtschaft“. Zudem sind diese Athleten auch, meiner Erfahrung nach, viel offener für Kontaktaufnahmen und Interviews. Vertreter anderer Sportarten erwiesen sich teilweise als geradezu kontaktscheu und hatten bei Podcasts generell so ihre Probleme mit der Professionalität. Bodybuilder sind zumeist am Boden geblieben, sehr verlässlich und machen in Interviews auch klare Ansagen. So z. B. die beste Anti-Doping- Ansage, welche mir ausgerechnet Mr. Olympia Dexter Jackson lieferte (Anm. d. Red.: Schwarzeneggers „Entdecker“ Kurt Marnul ist in den www.Power-Quest.cc-Sendungen 259 und 322 zu hören, Dexter Jackson in Podcast 220).

Kommst du da nicht manchmal in Gewissenskonflikte, wenn du Athleten vorstellst, denen man ganz offensichtlich den Konsum von anabolen Steroiden zuordnen muss?

Ich erwähnte es soeben. Die krasseste Anti-Doping- Ansage kam von IFBB-Profi Jackson. Obwohl er im Interview, wahrheitsgetreu die Einnahme anaboler Steroide natürlich nicht bestritt, sagte er ganz klar, dass Jugendliche, die sich für Bodybuilding interessieren, den Kopf einschalten sollen. „Bodybuilding ist Genetik“ waren seine Worte. Frei zitiert meinte er: „Wer nach einer gewissen Zeit harten Trainings nicht die hundertprozentige Berufung in sich fühlt, aber vor allem auch nicht das genetische Potenzial für die absolute Elite-Ebene, also beispielsweise für einen „Mr. Olympia“-Sieg aufweist, der sollte die Finger von irgendwelchen Mittelchen lassen. Die Gesundheit für den Spiegel oder die Proteinpulverbüchse zu riskieren, die es meist als „großen Preis“ bei Bodybuilding- Landesmeisterschaften zu gewinnen gibt, ist einfach nur dumm.“

Du wirst noch einige Jahre leistungssportlich aktiv sein und hoffentlich verletzungsfrei bleiben. Aber was kommt nach dem Leistungssport? Fällst du in ein Loch?

Irgendwie habe ich das Gefühl, dass mein Körper den Leistungssport inzwischen gewöhnt ist, diesen sogar braucht. Ich werde mich noch sehr lange verbessern können und sehe nach jetziger Sicht kein Ende. Ich bin mit Mentoren in Kontakt, die auch mit fast 60 noch extrem stark klettern. Ich werde wohl ein Leben lang Leistungssportler und Kletterer bleiben. Körperlich und mit Herz und Seele.

Fotos: Kurt Hechenberger, Konrad Wolff

03. März 2017

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