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Interview: Dr. Andreas Müller

Dr. Andreas Müller

Dr. Andreas Müller war bereits Bodybuilder als es den Begriff noch gar nicht gab. Als „Körperkulturist“ erlebte er die Anfänge des körperformenden Kraftsports in der damaligen DDR und schaffte sich trotz allgegenwärtigem Mangel die Bedingungen, um bis heute diesen Sport ausüben zu können. Als überzeugter Kritiker des professionellen „Chemie“-Bodybuildings engagiert er sich für die Entwicklung des Natural-Bodybuilding auf Verbandsebene und ist selbst noch aktiv. Der Modellathlet zeigt auch mit 55 Jahren noch, dass Kraft und Muskelmasse keine Einnahme anaboler Steriode voraussetzen, sondern das Ergebnisse von Fleiß, Trainingsplanung und gesundem Menschenverstand sind.

Kraftsport hat sich in der ehemaligen DDR mehr auf die Schwerathletik konzentriert. Wie bist du zum Bodybuilding gekommen?

In der DDR gab es seit den 60er Jahren eine schwerathletische Richtung, die als „Körperkulturistik“ bzw. „Kraftsport“ bezeichnet wurde und dem ostdeutschen Gewichtheberverband angegliedert war. Das Ganze blühte allerdings eher im Verborgenen. Ich erfuhr davon im Alter von 13 Jahren, und zwar ausgerechnet von den größten Gegnern des Bodybuildings, den Gewichthebern. Irgendwann fragte mich ein gereizter Gewichthebertrainer einmal, worauf es mir eigentlich ankommt – auf große Muskeln oder darauf, schwere Hanteln zu heben. „So einer“ (er imitierte die Körperumrisse eines Mannes mit riesigen Schultern) könne doch keine schweren Hanteln stemmen, da stünden die Muskeln im Weg. Da ahnte ich, dass es da außer Gewichtheben noch irgendetwas anderes geben muss. Als ich 14 Jahre alt war, traf ich den ersten Vertreter dieser verborgenen Zunft persönlich – einen Sportlehrerstudenten an meiner Schule, der mir sagte, wo ich mich nach einer „Kraftsportgruppe“ in der Umgebung erkundigen könnte.

Was hat dich von einer leistungssportlichen Laufbahn abgehalten?

Mich hat außer Krafttraining eigentlich kaum was interessiert. Ich hatte wohl auch kein Talent für irgendeinen olympischen Sport. Die Gewichtheber-Schmiede, wo ich als 13-Jähriger trainierte, wurde in Ermangelung eines Trainers irgendwann dichtgemacht, das Training im Fußball, Boxen, Ringen und Judo langweilte mich nach ein paar Wochen, und als ich mit 18 Jahren als Kraftsport-Bezirksmeister noch einmal zu einem Leistungstest im Gewichtheben eingeladen wurde, war meine Rückenmuskulatur schon zu unbeweglich für die Verrenkungen im Reißen und Stoßen. Heute bin ich sehr froh darüber, denn im DDR-Gewichtheben hat das staatlich organisierte Doping gruselige Folgen für Leben und Gesundheit der Aktiven gehabt.

Wie konntest du deinen Sport überhaupt ausüben?

Vor 1988 gab es nur ein einziges Fitnessstudio im damaligen „Sport- und Erholungszentrum“ in Ostberlin, kurz vor der „Wende“ kam ein zweites im Stadtbad von Karl-Marx-Stadt hinzu. Wer dort nicht unterkam, trainierte in den gewöhnlich völlig überlaufenen Krafträumen von sogenannten Betriebssportgemeinschaften oder wie ich in einem Fünfzehn-Quadratmeter-Raum neben der Bühne einer alten Schulturnhalle, ausgestattet mit einer Drückerbank und ein paar uralten Hanteln. Klimmzüge machte ich am Stufenbarren der Turner, Latziehen an einem Zuggerät Marke Eigenbau. Während des Studiums trainierte ich entweder im Abstellraum der Hochschulturnhalle unter ähnlichen Bedingungen oder fuhr ins benachbarte Dessau, wo es einen der besteingerichteten Krafträume der DDR gab. Nach Ende meines Lehrerstudiums richtete ich mir auf dem Dorf in Thüringen, wo ich wohnte, eigene Krafträume ein, wo schon bald auch meine Frau, Kollegen, Schüler und deren Eltern trainieren. Die meisten Geräte ließ ich mir in Bauschlossereien anfertigen, nur die Hanteln stammten aus alten Armeebeständen.

Wie hat sich die Notwendigkeit des Improvisierens auf Trainingsmotivation ausgewirkt?

Karte

Extrem gut! Ich hatte keine Lust, mich unterkriegen zu lassen, weil die roten Provinzfürsten Bürger wollten, die nur das fraßen, was ihnen vorgeworfen wurde! Ich kann mich noch gut an einen Schulinspektor erinnern, der mich 1988 völlig konsterniert fragte, „ob ich denn so hoch angebunden sei“, weil ich eine Freistellung für internationale Wettkämpfe in Polen beantragte. Diesen Leuten wollte nicht in den Kopf, dass sich jemand wagt, sein Leben nach eigenen Maßstäben zu leben. Aber genau das hat mich motiviert. Und meine Vorbilder - die Bodybuilder in Karl-Marx-Stadt und im tschechischen Marienbad - trainierten ja auch mit Geräten „Marke Eigenbau“. Es hat mich immer fasziniert, wenn Bodybuilder aus dem „goldenen Westen“ aus dem Staunen nicht mehr herauskamen, wenn sie sahen, unter welchen phantasievollen Bedingungen „Ostblock-Bodybuilder“ trainierten. Deshalb trainiere ich ja bis heute noch überwiegend im Heimstudio, und meine Beinmaschine kommt aus einer Bauschlosserei.

Wie hast du die damalige Szene im Nachhinein in Erinnerung?

Sie war viel aufregender als heute! Dieses ständige Räuber- und Gendarm-Spiel mit dem Staat, die Wettkämpfe im benachbarten Marianske Lazne (Marienbad, Tschechien), wo Ost- und Westbodybuilding zu einer einzigartigen, unnachahmlichen Mischung verschmolzen – das war einmalig! Ich habe kein Doping gebraucht, ich hatte genug Adrenalin im Blut!

Betrachten wir einmal generell den Sport zu Ostzeiten, besonders im Jugendbereich. Welche Unterschiede siehst du zu heute?

Die Trennschärfe war viel stärker- In der DDR wurde klar zwischen Leistungssport einerseits und „Freizeit- und Erholungssport“ andererseits getrennt. Wer Talent für eine der „förderungswürdigen olympischen Sportarten“ mitbrachte, wurde aus dem „normalen Leben“ weggenommen, kam auf eine „Kinder- und Jugendsportschule“, wo Training, Ernährung und Ausbildung mit immensem finanziellen Aufwand des Staates optimal aufeinander abgestimmt waren. Wer sich einen anderen Sport ausgesucht hatte oder nicht so talentiert war, musste sehen, wo er bleibt. Selbst Turnschuhe waren Mangelware.

Was kann man daran ableiten?

Wenn bei Olympischen Spielen und anderen internationalen Wettkämpfen Sportler aus Demokratien und Diktaturen gegeneinander antreten, dann ist das ein ungleicher Kampf. Und die Leistungsfähigkeit der Sportler sagt absolut nichts über die Lebensbedingungen der „Normalbürger“ ihres Herkunftslandes aus. Ich sehe den modernen Spitzensport überaus kritisch. Früher war er ein Instrument der ideologischen Auseinandersetzung mit dem konkurrierenden Weltsystem, heute ist er eine Geldruckmaschine, die sich zur Traumfabrik hochstilisieren möchte, aber immer mehr in den Dopingsumpf schlittert. Die Zukunft des Sportes sehe ich im Breiten- und Fitness-Sport, nicht im Hochleistungssport.

Zurück zum Bodybuilding. Dies hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Hast du irgendwann einmal daran gezweifelt, ob dies noch dein Sport ist?

Dr. Andreas Müller

Als ich Mitte der 1990er Jahre als Funktionär des Bodybuilding-Weltverbandes NABBA begriff, wie tief der Dopingsumpf tatsächlich ist, hatte ich schon eine echte Krise. Deshalb wurde ich ja so hellhörig, als ich von der Existenz von Natural-Bodybuilding-Verbänden erfuhr. Ich wusste zwar nicht, wie sie es anstellen wollen, wirklich „sauberes“ Bodybuilding zu gewährleisten, aber allein die Idee von Bodybuilding ohne Doping hat mich begeistert – wie auch immer das funktionieren soll. Im Jahr 2001 trat ich dann aus der NABBA aus, und ein Jahr später bestritt ich in der Schweiz meinen ersten Wettkampf im Natural-Bodybuilding. Ich habe es nie bereut.

Wie kann man „Natural Bodybuilding“ definieren?

Das ist ganz simpel: Natural-Bodybuilding ist Bodybuilding ohne Doping. Bezüglich der Definition des Dopingbegriffes halten sich die weltweit existierenden Natural-Bodybuilding-Verbände gewöhnlich an die WADDA-Richtlinien. Weil wir aber nicht die finanziellen Mittel für lückenlose Trainingskontrollen haben, wurde vor einigen Jahren im deutschen Natural-Bodybuilding zusätzlich der Fettfreie-Masse-Index (FFMI) als Zulassungskriterium für die Wettkämpfe eingeführt. Wer einen Wert über 26 aufweist, erhält keine Startgenehmigung! So kommen die „Monster“ nicht auf die Wettkampfbühne, selbst wenn sie beim Dopingtest noch so gut betrügen.

Wie lässt sich überhaupt messen, wer dopingfrei an den Start geht?

Wir haben es in den Anfangsjahren im deutschen Natural-Bodybuilding-Verband GNBF mit dem Lügendetektor-Test versucht und sind irgendwann an der immer größeren Teilnehmerzahl gescheitert. Wir haben teilweise schon am Mittwoch angefangen, Lügendetektor-Tests durchzuführen, um bis zum Wettkampf am Samstag fertig zu sein. Aber mit kurzen Tests erreicht man keine validen Ergebnisse, und als wir irgendwann bei den parallel durchgeführten Urintests positive Proben von Athleten fanden, die vorher den Lügendetektor-Test bestanden, hat unser Präsident die Polygraphtests als unzureichend eingestuft. Inzwischen haben wir ja auch erlebt, dass sich Athleten mit juristischen Mitteln gegen Dopingvorwürfe wehren und dabei heftige Geschütze auffahren – Schadenersatzklagen zum Beispiel. Deshalb werden inzwischen alle Trainingskontrollen von WADA-Testern vorgenommen, die Haaranalysen werden im IOC-Labor in Kreischa getestet, und als Notbremse haben wir den FFMI, d.h. alle Aktiven werden vor einem Wettkampf gewogen, gemessen, bei Annäherung an einen kritischen Überschlagswert wird der Körperfettanteil per Hautfaltendicke bestimmt, und dann wird gerechnet. Es hat schon Ausschlüsse vom Wettkampf gegeben. Natürlich bin ich, als einer der Initiatoren der Einführung des FFMI als Zulassungskriterium für Wettkämpfe der GNBF, im Internet nach allen Regeln der Kunst durch den Kakao gezogen worden, aber das muss man eben aushalten.

Der Gebrauch von anabolen Steroiden und einhergehender Pharmazeutika ist mittlerweile auch im Breitensport angelangt. Was treibt oftmals noch jugendliche Kraftsportler an, ihre Gesundheit so gedankenlos aufs Spiel zu setzen?

Man sollte besser fragen: WER treibt sie an? In Frankfurt/Main hat mir ein Studiobesitzer mal voller Stolz seine tolle Autogrammsammlung von allen möglichen Star-Bodybuildern gezeigt, und als ich dann sagte, dass das nicht meine Vorbilder seien, weil ich nun mal Natural-Bodybuilder bin und immer war, fiel er aus allen Wolken und kriegte sich gar nicht wieder ein über meine Sturheit. Ich habe den Vorwurf, in dieser Hinsicht ein arroganter Hund zu sein, stets als Ehrenbezeichnung empfunden. Aber viele junge Leute sind eben nicht so maßlos arrogant, und wenn dann ein väterlicher Bodybuilder mit beruhigender Stimme erzählt, dass der berühmte Arnold Schwarzenegger ja schließlich auch Steroide genommen hat und dass man es eben bloß nicht übertreiben darf, dann fällt das eben auf fruchtbaren Boden. Mir ist von Leuten, die ich an sich überaus achte, schon ins Gesicht gebrüllt worden, dass Bodybuilding ohne Anabolika nicht funktioniert! Allerdings gab es damals noch kein organisiertes Natural-Bodybuilding. Heute haben es die jungen Leute leichter, nicht in Versuchung zu geraten: Sie müssen nur den richtigen Leuten zuhören. Aber wenigstens sind inzwischen genügend dieser Leute da, während Berend Breitenstein, Prof. Dr. Martin Hörning, Jochen Möhrstädt und ich in den Anfangsjahren noch als kuriose Spinner in der Szene galten.

Viel zu oft hört man in entsprechenden Kreisen, dass sich ohne Anabolika sowieso kaum nennenswerte Kraft und Muskelmasse aufbauen lassen. Wie ist deine Meinung zu diesem Unsinn?

Ich habe als lebenslanger Natural-Athlet im Bankdrücken 197,5 kg bewältigt, als ich Mitte 20 war, und mein Armumfang beträgt jetzt, mit 55 Jahren, noch immer 43 Zentimeter. Und das, obwohl ich Mitte März wegen eines Geburtsfehlers fast gestorben wäre, wochenlang im Koma lag und erst seit einigen Wochen wieder ernsthaft trainieren kann. Niemand kann mir noch einreden, dass Natural-Bodybuilding nicht funktioniert.

Was würdest du jugendlichen Kraftsportlern empfehlen, die verzweifelt sind, da der Muskelaufbau leider nicht wie gewünscht voranschreitet?

Sie sollten mal darüber nachdenken, wie realistisch ihre Wünsche sind und wie vernünftig ihr Training ist. Darüber gibt es ganze Bücher. Einige habe ich selbst geschrieben (siehe unten).

Es ist also wie so oft die Kombination aus Hirnschmalz und Fleiß, die zählt?

Kombination ist wohl das richtige Wort. Vor allem kann man sich viel körperlichen Fleiß ersparen, wenn man den Hirnschmalz gezielt einsetzt. Aus heutiger Sicht habe ich in meiner Jugend viel zu viel trainiert, weil ich den Unterschied zwischen natürlichem und pharmazeutischem Bodybuilding nicht kannte. Aber wer weiß, was ich sonst angestellt hätte. Ich denke, es war wohl ganz gut so, diese Erfahrungen am eigenen Leib zu sammeln. Ohne gesunden Menschenverstand geht es nirgends.

Buchempfehlungen

Buchcover

Folgende Bücher sind von Dr. Andreas Müller im Novagenics-Verlag erschienen. Alle Novagenics-Titel basieren auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen, doch sie sind für den Anwender geschrieben. Die Bücher zum Kraft- und Fitnesstraining ver
mitteln keine graue Theorie, sondern liefern erprobte und nachvollziehbare Programme für den Muskelaufbau. Vielen Dank für das Team um Verleger Klaus Arndt für die Bereitstellung der Lesemuster und den Kontakt zu unserem Interviewpartner.

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Interview: Stefan Mothes | Fotos: Novagenics Verlag, Privatarchiv Dr. Andreas Müller

17. November 2017

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